Frühe Selektion verschwendet Potenzial
Ländern wie Singapur, Kanada, China oder Estland gelingt es deutlich besser, schwächere Jugendliche zu fördern. In diesen Ländern erreichen erheblich mehr 15-Jährige bei PISA die Grundanforderungen, und das, obwohl wir pro Schulkind deutlich mehr in die Bildung investieren. Die Organisation «Allianz Chance+» – eine Vereinigung von Schweizer Bildungsinstitutionen – schätzt den Schaden, welcher der Schweiz aufgrund unzureichend geförderter Jugendlicher entsteht, auf bis zu 30 Milliarden Franken pro Jahr. Das entspricht etwa 4 Prozent des Schweizer BIP. Trotz Fachkräftemangel nutzt die Schweiz also ihr Potenzial nicht aus. Durch die starke Ähnlichkeit der Systeme dürfte die Bilanz für Liechtenstein ähnlich aussehen.
Das Schweizer Schulsystem erhielt in der im Dezember 2023 vorgestellten PISA-Studie insbesondere in Bezug auf die Chancengerechtigkeit ungenügende Noten. Die Schere zwischen sozial benachteiligten und privilegierten Schülerinnen und Schülern hat sich bezüglich Bildungschancen in den letzten Jahren weiter geöffnet. Die frühe Selektion in verschiedene Leistungsstufen verschärft dieses Problem. Untersuchungen zeigen, dass sozial privilegierte Kinder deutlich häufiger dem Gymnasium oder der Realschule zugewiesen werden als Kinder aus sozial benachteiligten Schichten. Auch Kinder, die bei der Einschulung zu den Jüngsten gehören, sind tendenziell benachteiligt, ebenso wie Kinder, die spät in die Pubertät kommen. Dass die Selektion nur bedingt nach objektiven Kriterien erfolgt, zeigt auch eine 2016 in Liechtenstein durchgeführte Leistungserhebung. Diese kam zum Schluss, dass die Niveauüberschneidungen zwischen den Schultypen gross sind. So konnten 40 Prozent der Oberschülerinnen und Oberschüler in Mathematik mit den schwächeren Gymnasiastinnen und Gymnasiasten mithalten.
Untersuchungen aus der Schweiz zeigen, dass Schülerinnen und Schüler, die dem untersten Schulniveau zugeteilt werden, oft weniger lernen als es ihr Leistungspotenzial eigentlich zuliesse. Sie holen den Vorsprung der anderen kaum mehr auf und wählen später meist eine Berufslehre mit tieferen Anforderungen. Auch in Liechtenstein wechseln nur wenige Jugendliche von der Ober- in die Realschule. Wie sich ihre weitere Laufbahn gestaltet, wird in Liechtenstein statistisch nicht erfasst. Klar ist jedoch: Im Alter von elf Jahren wird eine wesentliche Weiche für die spätere berufliche Laufbahn gestellt, die trotz einer gewissen Durchlässigkeit im System später nur mit grossem Aufwand korrigiert werden kann.
Neben der Struktur des Bildungssystems spielen diverse weitere Faktoren eine wesentliche Rolle für den Bildungserfolg. Zukunft.li hat sich in Zusammenarbeit mit einem Forschungsteam der Pädagogischen Hochschule Bern dem Thema «Steuerung von Schulsystemen» angenommen und verschiedene staatliche Steuerungsebenen genauer unter die Lupe genommen. Die Studie wird Anfang März vorgestellt und wir hoffen, dass nicht nur das
Thema Bildungsgerechtigkeit, sondern auch andere Möglichkeiten, das Bildungssystem zukunftsfähiger zu gestalten, zu einer breiten, politischen Diskussion führen werden.
Doris Quaderer
Projektleiterin Stiftung Zukunft.li