Liechtenstein und die Schweiz: Eine gute Freundschaft - auch mit Ecken und Kanten

Grenzüberschreitende Dienstleistungen: zurück zu einem hürdenfreien und offenen Markt
Die Möglichkeit, Dienstleistungen grenzüberschreitend zu erbringen, gehört zu den vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktrechts. Damit unterschiedliche Regelungen der einzelnen Staaten nicht zu Wettbewerbsnachteilen für die heimische Wirtschaft führen, müssen ausländische Dienstleister in verschiedenen Schutzbereichen, zum Beispiel bei den Mindestlöhnen oder den Höchstarbeitszeiten, das Recht des Empfangsstaats anwenden. Durch das Personenverkehrsabkommen von 2002 gelten diese Regelungen auch zwischen der Schweiz und der EU und durch eine Anpassung des EFTA-Übereinkommens auch zwischen den EFTA-Staaten. Durch unterschiedliche Verfahrenspraxen in Liechtenstein und der Schweiz fühlten sich Liechtensteiner Unternehmen benachteiligt. Nach Protesten erliess die Regierung ein Massnahmenpaket mit ebenfalls schärferen Regelungen. Damit sind die Spiesse jetzt zwar gleich lang, hüben wie drüben wünscht sich ein Grossteil der Unternehmer die früheren, liberalen Rahmenbedingungen zurück. Die Schweiz stellt sich auf den Standpunkt, dass weitergehende Anpassungen im bilateralen Verhältnis nicht mit dem Diskriminierungsverbot gegenüber der EU vereinbar sind.
Liechtenstein hätte gute Argumente, um die Thematik mit Bern neu aufzugreifen, wie eine fundierte Rechtsexpertise zeigt, die in der vorliegenden Studie beschrieben wird. Aus rechtlicher Sicht sprechen verschiedene Gründe dafür, dass Spielraum für bilaterale Regelungen besteht, die vom EU-Entsenderecht abweichen. Konkret könnte der bestehende Rahmenvertrag zwischen Liechtenstein und der Schweiz gelockert werden, der von der Schweiz im Rahmen ihrer «flankierenden Massnahmen» erlassen wurde. Voraussetzung dafür ist politischer Wille auf beiden Seiten des Rheins.
Gesundheitsbereich: Chancen abwarten und nutzen
Die Verflechtung Liechtensteins mit dem Schweizer Gesundheitssystem ist hoch. Das Land übernimmt Tarifsysteme und Medikamentenpreise weitgehend, die stationäre Gesundheitsversorgung liechtensteinischer Patienten erfolgt überwiegend in Schweizer Spitälern. Trotz gleicher Systematik bestehen wesentliche Unterschiede in der Ausgestaltung der Krankenversicherung. Die Prämienbelastung in Liechtenstein ist durch die direkte Mitfinanzierung der Gesundheitskosten über einen Staatsbeitrag deutlich tiefer als in der Schweiz. Gerade weil in beiden Ländern identische Tarifsysteme angewendet werden, wäre eine regionale Bedarfsplanung in der ambulanten Gesundheitsversorgung vorteilhaft. Diesem Ansatz stehen allerdings aktuell unterschiedliche Steuerungssysteme entgegen. Die Ausgangslage könnte sich ändern, wenn die Schweizer Kantone nebst dem stationären Bereich auch die ambulanten Gesundheitskosten mitfinanzieren («ambulant vor stationär») und dadurch mehr Einfluss- und Steuerungsmöglichkeiten einfordern. Wenn sich ein solcher Systemwechsel abzeichnet, sollte Liechtenstein die Zusammenarbeit mit St. Gallen suchen.
Finanzmarktinfrastruktur und Währung: Der Spagat zwischen EWR-Mitgliedschaft und Schweizer Währungsraum
Der Währungsvertrag ist nebst dem Zollvertrag mit der Schweiz ebenfalls von grosser Bedeutung. Die Einführung des Schweizer Frankens im Mai 1924 hat die wirtschaftliche Entwicklung Liechtensteins ohne Zweifel begünstigt. Die Studie untersucht drei theoretische Alternativen zum Schweizer Franken. Als Fazit ist festzuhalten, dass keine vorteilhaften Alternativen zur heutigen Lösung erkennbar sind. Der grösste Nachteil aus dem Verzicht auf eine eigene Währung besteht darin, dass kein Kreditgeber letzter Instanz (lender of last resort) existiert, der Banken im Krisenfall mit ausreichend Liquidität versorgt.
Die Einbindung in den Schweizer-Franken-Währungsraum bedingt den Zugang zur schweizerischen Finanzmarktinfrastruktur wie Börsen oder Zahlungssystemen. Als EWR-Mitglied ist Liechtenstein verpflichtet, die EWR-relevante Finanzmarktgesetzgebung zu übernehmen. Dass die Schweiz im EWR-Acquis als Drittland gilt, hat in den letzten Jahren mehrere Konfliktfelder eröffnet. So erlaubt das EU-Recht Banken aus dem EU-/EWR-Raum den Zugang zu Drittlandseinrichtungen – wie eben beispielsweise der Finanzmarktinfrastruktur der Schweiz – immer öfter nur noch dann, wenn sie als gleichwertig anerkannt sind. Ausserdem können liechtensteinische Finanzinstitute bei Konflikten zwischen der EU und der Schweiz tangiert werden, weil sie auf den ungehinderten Zugang zur Schweizer Finanzmarktinfrastruktur angewiesen sind. Dieses Konfliktpotenzial macht es unabdingbar, die EU-Rechtsetzung schon in frühen Phasen auf potenzielle Konflikte auszuleuchten und bei Bedarf Ausnahme- oder Übergangsregelungen zu erwirken – was bis anhin gelungen ist.
Steuern: Eingeschränkte finanzpolitische Souveränität als Preis für den Zugang zum Schweizer Markt
Der offene Zugang zum Schweizer Markt ist nicht gratis zu haben. Im Fiskalbereich tritt das Land einen Teil seiner Hoheitsrechte an die Schweiz ab. Verschiedene Steuern und Abgaben (Mehrwertsteuer, Stempelsteuer, Zölle, LSVA, usw.) kommen direkt zur Anwendung oder werden «autonom nachvollzogen». Fast 40% der Fiskaleinnahmen des Landes hängen direkt von Schweizer Regelungen ab.