Liechtenstein hängt am Rockzipfel der Weltwirtschaft
Exporte brechen ein
Ein weiterer Grund für die hohe Betroffenheit Liechtensteins ist die starke Exportorientierung der Wirtschaft, machen doch die Exporte mehr als die Hälfte des BIP aus. Sie sind deshalb die Achillesferse der liechtensteinischen Volkswirtschaft. Die Exporte sind im April um 45 Prozent eingebrochen. Die gewichtige Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie hat einen Rückgang von rund 38 Prozent erlitten. Besonders hart getroffen wurde die Fahrzeugindustrie mit einem Minus von 80 Prozent im April. Betrachtet man die ersten vier Monate dieses Jahres, dann ist der Exportumsatz in dieser Branche um 23 Prozent zurückgegangen. Der Auslandsumsatz aller Warenverkäufe lag 17 Prozent unter den Werten von 2019. Dabei orderte der wichtigste Kunde, Deutschland, 12 Prozent weniger. In die USA, dem zweitwichtigsten Kunden, schrumpften die Ausfuhren um 18 Prozent. In jene Länder, in welchen das Virus besonders grassierte, sind die Exporte weit über 20 Prozent gesunken. Dazu gehören Spanien, Grossbritannien, Frankreich und Italien. Nicht nur die Industrie, sondern auch der Tourismus lebt von Kunden aus dem Ausland. Im April sind die Logiernächte gegenüber dem Vorjahresmonat um gut 90 Prozent eingebrochen.
Weltwirtschaft als wichtigster Hebel
Für die weitere Entwicklung der liechtensteinischen Exporte sind mehrere Faktoren wichtig. Zum einen ist es eine allfällige zweite Welle des Coronavirus und wie die wichtigsten Absatzländer sie bewältigen. Zum anderen ist der Knackpunkt für die Volkswirtschaft Liechtensteins die weitere Entwicklung der Weltkonjunktur. Die OECD geht in ihrem jüngsten Ausblick von einem starken Rückgang des globalen BIP von sechs Prozent aus. In der Eurozone bleibt es unklar, ob das Glas bei einem prognostizierten BIP-Rückgang zwischen sechs und neun Prozent als halb leer oder halb voll angesehen werden kann. Die Abflachung der Ansteckungskurve hat jedenfalls einen schnelleren Ausstieg aus dem Lockdown gestattet als erwartet. In den USA, der grössten Volkswirtschaft der Welt, ist die Konjunktur dramatisch eingebrochen, was insbesondere im Arbeitsmarkt zum Ausdruck kommt. Von Mitte März bis Mitte Mai beantragten 36 Millionen Amerikaner Arbeitslosenhilfe. Die jüngsten Arbeitsmarktdaten vermochten aber positiv zu überraschen.
Was macht der Franken?
Auch die Entwicklung der Wechselkurse ist für die wirtschaftliche Entwicklung Liechtensteins wichtig. Nachdem der Franken nach Ausbruch der Coronakrise lange an einem Mehrjahrestief von 1.05 zum Euro klebte, hat er in den letzten Tagen wieder die Marke von 1.08 durchbrochen. Auf den ersten Blick mag dieser Anstieg bescheiden erscheinen, er ist aber für die Exporteure von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Verantwortlich dafür dürften nicht die Devisenkäufe der Nationalbank sein, sondern viel mehr die Äufnung eines Wiederaufbaufonds für die EU im Umfang von 750 Milliarden Euro, der die Gefahr einer erneuten Eurokrise etwas gebannt hat. Ein Versprechen für eine weitere Erstarkung des Euro ist dies aber kaum. Denn noch ist es nicht sicher, ob dieser Schritt in Richtung Schuldenunion von den Mitgliedsländern akzeptiert wird. Und solang die eigentlichen Probleme des Euro nicht gelöst, sondern nur mit der geldpolitischen Droge der Europäische Zentralbank überdeckt werden, bleibt der Euro krisenanfällig.
Die Gegenwart schreit lauter als die Zukunft
Die Bekämpfung der Coronarezession mit beispiellosen geldpolitischen Manövern und neuen Schuldenbergen stellen uns jedenfalls vor grosse langfristige Herausforderungen. Kommt nun die grosse Inflation? In der kurzen Frist wird der Konsum- und Investitionsrückgang, begleitet vom Preisdruck beim Erdöl, für eine deflationäre Phase sorgen. Auch Lohnerhöhungen als Preistreiber fallen bei der aktuellen Verfassung des Arbeitsmarktes aus den Traktanden. Doch sollte sich die Nachfrage schneller erholen als das Angebot, weil z. B. die Reparatur und Neuorganisation von Lieferketten mehr Zeit in Anspruch nehmen als den Unternehmen lieb ist, wird das in mittlerer Frist zu steigenden Preisen führen. Es wäre zudem nicht das erste Mal, dass die Finanzierung von Staatsdefiziten mit Geldschöpfung einem Anstieg der Inflation vorausläuft. Denn eines ist sicher: Der globale Schuldenberg von Unternehmen, Privathaushalten und Staaten wird in den kommenden Jahren massiv anschwellen. Verschiedene Institutionen gehen davon aus, dass die Staatsverschuldung der Industrieländer auf das Niveau des zweiten Weltkrieges ansteigen wird. Die Frage «Wer soll das bezahlen?» mit einer Inflationierung zu beantworten, ist dabei weit attraktiver als Sparprogramme oder Steuererhöhungen.
Licht am Horizont
Zurück in die Gegenwart, in der durchaus Hoffnungen auf eine relativ schnelle Erholung aufkeimen. Genährt werden sie unter anderem durch positive Signale aus den Nachbarländern. Deutschland wurde von der Pandemie weniger stark getroffen als andere Länder der EU. Es konnte den Lockdown deshalb einigermassen erträglich halten, ihn relativ schnell wieder lockern und den finanzpolitischen Spielraum für ein 130 Milliarden starkes Konjunkturprogramm nutzen. Österreich hat den Tiefpunkt bereits Ende März erreicht und befindet sich seither auf dem Weg der Besserung. In der Schweiz hat der wichtigste Frühindikator, das Konjunkturbarometer der KOF/ETH, seine Talfahrt verlangsamt. Auch die Geschäftslage hat im Mai wieder Boden unter den Füssen gewonnen. Zurzeit befindet sich die Schweiz auf dem Weg des Szenarios «V-Rezession» des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), was nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass auch dieses Szenario einen BIP-Rückgang von rund sieben Prozent erwarten lässt. Und dann ist da noch die Börse, die den Eindruck vermittelt, dass alles wieder in Ordnung ist. Die Hilfsprogramme und Notkredite der Regierungen und der beispiellose Einsatz der Notenbanken mit «Whatever it takes»-Medikamenten lassen allerdings den Verdacht aufkommen, dass die Finanzmärkte und die Wirtschaft sich voneinander abgekoppelt haben.
Was heisst das für Liechtenstein? Noch ist es nicht ausgestanden, aber die Chancen stehen gut, dass die schlimmsten Befürchtungen für die Weltwirtschaft und damit auch für Liechtenstein abgewendet werden können. Dennoch trifft die Corona krise Liechtenstein hart, weil die globalen Investitionen zurückgefahren werden und für einmal auch der schwächelnde Konsum die Binnenwirtschaft trifft. Die Rezession wird tief ausfallen. Unser im März aufgestelltes Szenario mit einem BIP-Rückgang von sieben bis zehn Prozent in Liechtenstein halten wir nach wie vor für möglich, auch wenn es aus aktueller Perspektive als eher optimistisch zu beurteilen ist. Das Niveau der Wertschöpfung von 2019 dürfte frühestens gegen Ende 2021 wieder erreicht werden. Ausserdem bleiben grosse Risiken wie eine erneute Ausbreitung des Virus, Firmenkonkurse und Verwerfungen am Arbeitsmarkt bestehen. Es bleibt (leider) dabei: Über Ungewisses – und so ist die Zukunft einmal – kann man nichts Gewisses aussagen.