Diese Krise ist anders
Die staatlich verordnete Rezession
Anders als bei der Krise 2008 sind nicht die Finanzmärkte der Ausgangspunkt, sondern die Realwirtschaft. Aktuell wird die Wirtschaft von einem gigantischen Angebotsschock in grossen Teilen stillgelegt. Die Verbreitung des Virus bewirkt Rückgänge in der Produktion, internationale Wertschöpfungsketten werden unterbrochen und Lieferengpässe von Vorleistungen steigern den Produktionsausfall. Der grössere Teil des Angebotsschocks ist allerdings auf die Massnahmen der Regierungen zur Bekämpfung des Virus zurückzuführen – und das ist das wirklich Neue. Die Aufmerksamkeit der Medien, der Politiker und der Bevölkerung richtet sich auf die Anzahl der Infizierten und der Corona-Toten. Die Politik ist unter massiven Handlungsdruck geraten. Als Schuldige für Todesfälle angeprangert zu werden, will und kann sie sich nicht leisten. So befinden sich grosse Teile unserer Wirtschaft in einem politisch verordneten Stillstand: Restaurants, Hotels, Kinos, Coiffeure, Sportzentren, Eventveranstalter, Modegeschäfte, Fitnesscenter usw.
Die staatlichen Notfallpläne zwingen tausende von Unternehmen und hunderttausende von Beschäftigten zum Vollstopp und führen zu Einkommensausfällen. Der immense Angebotsschock wird deshalb von einem Nachfrageschock begleitet: Es wird weder produziert noch gekauft! Diese Parallelität von Angebots- und Nachfrageeinbruch ist historisch einmalig.
Ökonomisches und gesellschaftliches Experiment
Das Ausmass der Krise
Massiver Produktionsausfall
Wie hoch ist der Produktionsausfall in Liechtenstein? Eine seriöse und verlässliche Antwort auf diese Frage ist nicht möglich. Zur Annäherung einer Schätzung dient die Annahme eines vollständigen Stillstands der liechtensteinischen Volkswirtschaft während zwei Monaten. Die Wertschöpfung von Liechtenstein lag im Jahr 2018 bei 6'724 Mio. Fr., was 560 Mio.Fr. pro Monat entspricht. Zwei Monate vollständiger Stillstand bedeuten deshalb eine Reduktion der Wertschöpfung um 1'120 Mio. Fr. oder 17% des Bruttoinlandprodukts (BIP).
Dieses Szenario ist zu pessimistisch, weil ja nicht die gesamte Volkswirtschaft «atemlos» ist, aber doch beachtliche Teile davon. Treffen wir die Annahme, dass Liechtenstein ähnlich betroffen ist wie die Schweiz, beträgt der geschätzte Einbruch um einen Viertel rund 140 Mio. Fr. pro Monat, was zwei Prozent des BIP ausmacht. Ein Vergleich der Branchen- und Exportstruktur von Liechtenstein und der Schweiz führt zu der Annahme, dass Liechtenstein stärker von der aktuellen Krise betroffen werden könnte. Insbesondere die Pharma- und die Gesundheitsbranche ist in Liechtenstein weniger stark, der Maschinen- und Fahrzeugbau hingegen stärker vertreten als in der Schweiz. Ein Monat partieller Stillstand kostet Liechtenstein gleich viel wie das Land pro Jahr für die Bildung ausgibt. Pro Woche laufen Kosten von 35 Mio. auf, was die jährlichen Landesausgaben für Freizeit und Kultur übertrifft.
Diese Vergleiche zeigen eindrücklich, dass für die volkswirtschaftlichen Kosten die Länge des Lockdowns entscheidend ist. Unter der Annahme, dass die Krise rund drei Monate dauert und dass es nochmals rund drei Monate braucht bis nach dem Exit die normale Leistung erbracht werden kann, ergibt das einen Einbruch der Wirtschaftsleistung von schätzungsweise 500 bis 700 Mio. Fr. oder einen BIP-Rückgang von rund 7 bis 10 Prozent.
Zum Vergleich dienen die Berechnungen des ifo Instituts für Deutschland. Bei einem zweimonatigen Stopp berechnet es einen BIP-Rückgang zwischen 7 und 11 Prozent; bei drei Monaten würde der Einbruch – je nach Teilszenario – zwischen 10 und 20 Prozent betragen.
Die wirtschaftlichen Einbussen sind ebenso ansteckend wie ein Virus und auch sie können exponentiell zunehmen. In unserer arbeitsteiligen globalen Wirtschaft drohen Lieferketten zusammenzufallen, wenn einzelne Unternehmen ihre Rechnungen und Löhne nicht mehr bezahlen, ihre Mitarbeiter entlassen und bankrottgehen.
In dieser Situation braucht es die Bereitschaft des Staates, die Einkommensausfälle zu kompensieren. Denn wenn der Staat eine Rezession «verordnet», dann muss er auch die Verantwortung für die Entschädigung der Geschädigten übernehmen. Und zwar schnell und nachhaltig. Liechtenstein hat in den vergangenen Wochen ein sinnvolles und zielgerichtetes Stützungsprogramm auf die Beine gestellt, bei welchem die finanzielle Hilfe an Unternehmen und Arbeitnehmer schnell und auf breiter Front gewährt wird.
Massnahmen in unbekanntem Ausmass
Besonders wichtig ist die Regelung der Kurzarbeit, die eine Welle von bisher unbekanntem Ausmass angenommen hat. Während auf dem Höhepunkt der Finanzkrise in der Schweiz 92'000 Erwerbstätige in Kurzarbeit geschickt wurden, steigt die gegenwärtig die Zahl täglich um rund 80'000 bis 100’000. Im Tessin gilt die Kurzarbeit bereits für 40% der Erwerbstätigen. Hochgerechnet auf die Schweiz würde das zwei Mio. Kurzarbeitende bedeuten.
Für Liechtenstein sind bis dato keine aktuellen Zahlen bekannt. Im Finanzkrisenjahr 2009 explodierte die Kurzarbeitsentschädigung auf 15 Mio. Fr., die an 1'500 Arbeitnehmende ausbezahlt wurde. Allein die Zahl von jetzt schon über 700 Anträgen lässt den Schluss zu, dass die aktuelle Krise zu massiv höheren finanziellen Belastungen der Arbeitslosenversicherung führen wird. Erste, für liechtensteinische Verhältnisse sehr grosse Arbeitgeber haben bereits vollständige oder teilweise Kurzarbeit bekannt gegeben.
Wie überall reagiert auch die Politik in Liechtenstein mit wirtschaftlichen Notfallmassnahmen. Oberstes Ziel ist die Sicherung von Arbeitsplätzen und schnelle Liquiditätshilfe für betroffene Unternehmen, die keinen Zugang zu einem «ordentlichen» Bankkredit haben. Insgesamt wurden 100 Mio. Fr. bereitgestellt mit dem klaren Bekenntnis, bei Bedarf nachzulegen. Bereits laufen die Arbeiten zur Feinjustierung der Regelungen nach den ersten Erfahrungen mit dem Massnahmenpaket.
Mit einem Fuss steht die Politik also auf der Bremse, mit dem anderen gibt sie Gas. Dabei stellt sich die Frage, wie diese Überlebensstrategien für die Volkswirtschaften finanziert werden sollen. Liechtenstein befindet sich durch seine hohen Staatsreserven in einer weltweit fast einmaligen Ausgangslage, kann es doch notfalls ein Vielfaches der bereits gesprochenen Summe aus dem bestehenden Finanzvermögen finanzieren. Eine Variante für andere Staaten ist die Finanzierung der Schulden am Kapitalmarkt. Diese Variante ist für die Schweiz und Deutschland möglich aber nicht für Länder, bei denen die aktuellen Schulden schon so hoch sind, dass diese Schuldpapiere zu akzeptablen Bedingungen keine Käufer finden.
Für diese Staaten bleibt als letzte Möglichkeit die Monetisierung der Krisenkosten durch die Zentralbanken. Die US-Notenbank (FED) lässt im Kampf gegen die Corona-Krise alle Dämme brechen. Sie wird praktisch das gesamte US-Finanzsystem absichern und die staatlichen Ausgaben finanzieren. Derzeit hat Amerika 23.5 Billionen Dollar Schulden ausstehend und 2 bis 3 Billionen werden innert kurzer Zeit dazukommen – finanziert durch die Zentralbank, was die Bilanz der FED auf einen neuen Rekordwert anschwellen lässt. Auch die Europäische Zentralbank (EZB) hat alle guten Vorsätze über Bord geworfen: Not kennt kein Gebot. Sie hat ein neues Pandemie-Anleihekaufprogramm über 750 Milliarden Euro aufgestellt und lässt die selbst gesetzten Grenzen zum Erwerb von Staats- und Unternehmensanleihen ausseracht.
Mit diesen Massnahmen soll der oben skizierte Einbruch des BIP gemildert werden. Wer in einer Krise allerdings immer wieder zur geldpolitischen Droge greift, gerät in eine Sackgasse. Deshalb stellen sich einige wichtige Fragen: Versinkt die Welt in einer Schuldenfalle? Steht die nächste Eurokrise vor der Türe? Droht eine Massenarbeitslosigkeit? Meldet sich die Inflation zurück? Diese Fragen stellen sich insbesondere dann, wenn der Stillstand der Wirtschaft länger anhält als bisher angenommen und wenn die bisherigen – bereits mit hohem Risiko verbundenen – Massnahmen nicht ausreichen, um eine wirtschaftliche Katastrophe zu verhindern.
Das vermeintliche Dilemma!
Das Coronavirus geniesst auch deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil wir die Bedrohung unmittelbar, jetzt und akut wahrnehmen, während ein möglicher wirtschaftlicher Kollaps erst am Horizont erkennbar ist. Die Gegenwart schreit eben lauter als die Zukunft. Je stärker und schneller die Folgen der Rezession im eigenen Leben ankommen, desto schneller kann die Stimmung in der vermeintlichen Solidargemeinschaft allerdings auch kippen.
Schutz der Gesundheit versus Schutz der Wirtschaft?
Tatsache ist, je stärker wir die Infektion bekämpfen, desto stärker bricht die Wirtschaft ein. Es scheint also ein Dilemma zwischen mehr Gesundheitsschutz und wirtschaftlichem Schaden zu geben. Diese Debatte ist aber irreführend, weil es letztlich um dasselbe geht, nämlich um das Wohlergehen und die Gesundheit der Menschen. Die nackten Zahlen zu den Kosten einer Rezession verschleiern, dass hinter einem Einbruch der Wirtschaft letztlich Schicksale von Menschen und ihre physische und psychische Gesundheit stehen. In schweren Wirtschaftskrisen, in denen Arbeitsplätze und Einkommen ausfallen, stehen menschliches Leid und gesundheitliche Probleme im Fokus.
Trotzdem: Es gibt zwischen der Bekämpfung der gesundheitlichen Risiken aufgrund des Virus und aufgrund einer tiefen Rezession einen «trade off» oder einen Zielkonflikt. Wie meistens im Leben können wir nicht alles haben und sind deshalb zu Kosten-Nutzen-Überlegungen gezwungen. Wir müssen ein «Gleichgewicht» zwischen dem Schutz vor der Krankheit des Virus und dem Schutz vor der Krankheit der wirtschaftlichen Krise finden.
Weit entfernt von der Suche nach diesem Gleichgewicht sind Politiker, die versprechen, alles zu tun, um das Coronavirus zu meistern: «Whatever it takes» - koste es, was es wolle. Denn Extreme sind irrational und ineffizient, weil bei ihnen die Opportunitätskosten schlicht und einfach vergessen gehen. Beim Feuerlöschen denkt man eben selten an mögliche Wasserschäden. Es geht nicht um ein «entweder oder», sondern es geht um ein «sowohl als auch». Gesucht ist nicht das Maximum, sondern das Optimum.
Wie weiter?
Grossflächiges Testen
Die beste Voraussetzung dafür ist ein grossflächiges Testen. Mit Schnelltests können die infizierten Menschen von den Gesunden getrennt werden. Eine wichtige Ressource zur Bewältigung der Krise sind die Corona-Immunen, also jene Menschen, die mit Corona infiziert waren. Mit der steigenden Anzahl der Infizierten wächst nach ihrer Genesung auch die Anzahl der Immunen in der Bevölkerung. Umfangreiche, grossflächige Antikörpertests geben Aufschluss über die Anzahl immuner Menschen, weil dazu auch diejenigen gehören, welche die Krankheit - ohne es zu bemerken und ohne Tests - überwunden haben. Immune Menschen können eingesetzt werden, um den Stillstand zu überwinden. Sie können als erste und vorrangig wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und ihre sozialen Kontakte pflegen.
Auch können Schulen und Kindergärten, in denen ein grosser Anteil von Schülern und Lehrer immun ist, wieder geöffnet werden - unter Beachtung von erhöhten Schutzmassnahmen. Zumal gemäss anerkannten Infektiologen Kinder ohne Vorerkrankung am Coronavirus nicht schwer erkranken. Offene Schulen fördern die Immunität der Kinder und verlangsamen deshalb die Ausbreitung der Krankheit.
Umfangreiche Tests liefern verlässliche Angaben über die Gefährlichkeit des Virus, die Dynamik der Epidemie, die Sterblichkeit und den Anstieg der Immunität der Bevölkerung. Dank Ihnen können sowohl die aktuelle Lage, die zukünftige Entwicklung als auch die Auswahl und Wirkungen der Massnahmen besser eingeschätzt werden. Grossflächige Tests erlauben deshalb auch, den Stillstand kurz zu halten und den Exit vorzubereiten.
Führende Epidemiologen als auch Ökonomen sind sich für einmal (beinahe) einig: Umfangreich Kapazitäten zur Durchführung der Tests sind schnell aufzubauen. Weil Antikörpertests ein so wichtiges Instrument sind, werden sie derzeit weltweit von einer Vielzahl von Institutionen und Firmen entwickelt. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis fällt angesichts der zusätzlichen Kosten des aktuellen Stillstands von 35 Mio. Fr. pro Woche sehr gut aus.
Schrittweiser Exit aus dem Stillstand
Ein grossflächiges Testen erleichtert es, schrittweise in die Normalität zurückzukommen. Dabei kann die Regierung an das Regime anknüpfen, das heute schon für die Lebensmittelläden gilt. Beispielsweise können Restaurants, Coiffeursalons oder Kleidergeschäfte unter Einhaltung von Schutzbestimmungen wieder öffnen, sodass die Ansteckungsrate nicht wieder ansteigt. Die Leistung kann zwar nicht von null auf das normale Niveau heraufgefahren werden, aber Firmen können vor dem Konkurs bewahrt und ihre Geschäftsmodelle an die Einschränkungen angepasst werden. Noch wissen wir nicht, ob der schwedische Weg mit deutlich kleineren Einschränkungen weniger erfolgreich in der Bekämpfung des Virus ist als unsere Strategie.
Lehren aus der Krise
Mitten im Kampf gegen das Virus und die wirtschaftliche Krise ist es eindeutig zu früh, um eine umfassende Liste von Lehren zu erstellen. Trotzdem sind einige wenige Gedanken erlaubt. Wir zahlen einen relativ hohen Preis dafür, dass wir nicht ausreichend auf eine Pandemie vorbereitet waren. Diesbezüglich können wir von einigen asiatischen Ländern lernen. Zu kritisieren ist, dass man im Schweizer Pandemieplan gänzlich auf die Virologen setzt. Natürlich ist es das primäre Ziel, Menschenleben nicht zu gefährden. Aber man darf beim Planen von Massnahmen im Kampf gegen eine Pandemie die dadurch ausgelösten wirtschaftlichen Folgekosten nicht einfach ignorieren. Im Gegenteil: Um gute Entscheide zu fällen, muss die Politik die Wechselwirkungen der gesellschaftlichen Subsysteme verstehen; sie muss Opportunitätskosten berücksichtigen und Nebenwirkungen kalkulieren. Wäre man dieser Forderung bereits beim Aufstellen des Pandemieplans gefolgt, wären wohl genügend Kapazitäten im Gesundheitswesen für den Notfall zur Verfügung gestanden bzw. hätten in kurzer Zeit aufgebaut werden können. Die Diskussionen um eine Verflachung der Ansteckungskurve und der damit verbundene Produktionsstopp wären nicht im aktuellen Mass notwendig gewesen.
Zurück zur Gegenwart: Heute beschäftigt insbesondere die Frage, wie lange der Lockdown noch andauert und die volkswirtschaftlichen Kosten ansteigen werden. Zur Erinnerung: Die wirtschaftliche Krise kann ebenso ansteckend sein und sich ebenso exponentiell entwickeln wie das Coronavirus. Es geht nicht um das Maximum, sondern um das Optimum. Eine echte Herausforderung!
Peter Eisenhut
Ökonom und Präsident der Stiftung Zukunft.li